Prolog
das voraus:
Kurt Marti
lobpreis
der ohne ende:
er beendet!
der nie begann:
er schafft beginn!
der nicht bedeutet:
er schenkt bedeutung!
der ohne notwendigkeit:
er wendet not!
Wir haben alle einen Anfang und ein Ende; das dazwischen aber ist unser Leben; und dieses "Dazwischen" ist uns – meist allerdings beim "Anderen" – ein großes Rätsel.
Leben? So ganz nackt, auf dem Seziertisch und wissenschaftlich haben wir 46 XX Chromosomen für Frauen und 46 XY Chromosomen für Männer – oder ~24.800 Gene – mit unendlich vielen DNA's, für die wir all unser Tun und Nichttun verantwortlich machen können.
Wir sind aber auch Produkte unserer Vorfahren – das könnte ja noch einigermaßen mit den Chromosomen, Genen und DNA's ja erklärt – und entschuldigt – werden. Es ist aber nur die halbe Wahrheit. Wir sind – ganz unbewusst – auch Produkte der Freuden und Leiden, der Erfolge und Ängste, den Lebens-Schicksalen, Erfahrungen und Bekanntschaften und den dabei notwendigerweise angelernten Gewohnheiten unserer Vorfahren.
Dem will ich versuchen nachzugehen und es an Nachvollziehbarem mir und Euch zu vergegenwärtigen
– in einer inneren und einer äußeren Geschichte – und – wenn ich gar nicht weiter weiß, nehme ich meine Fantasie zu Hilfe.
Ganz unabhängig voneinander fangen Mutti und ich auf einmal an, Euch beim "Ausmisten" Eures Erbes ein wenig zuvor zu kommen. Gertrud klebt, statt zu entsorgen die 1000 in der Schublade umher liegenden Bilder ein, ich muss mein ganzes Arbeitszimmer mit allem gesammelten "könnte man ja irgendwann einmal brauchen" dem Papiermüll zuführen und finde erst einmal das, was ein ganzes Leben lang unter "ferner liefen" lief: Alles wohl eine Alterserscheinung.
Gertrud und ich, wir sind – leider – Einzelkinder; das haben wir gemeinsam. Unsere beider Eltern und Vorfahren kommen aus "einfachen Verhältnissen"; auch das haben wir gemeinsam.
Gertrud hat in der Rhön viele Verwandte, schon längst verstorbene aber auch noch viele lebende.
Ich hatte zwar "richtige" aber nur ferne Verwandte, von denen mir beiläufig und nur mit gewissem Unterton berichtet wurde, so, dass das Kind sie nicht vermisste. In der freikirchlichen "Gemeinde" gab es aber halt genug Geschwister ABC, Bruder D und Schwester E. Man traf sich jeden Sonntag, manchmal auch zweimal und abends bei der "Jugend". Viele stammten auch einer größeren Familie, ich halt nicht; das war halt so.
Gertruds Vorfahren und Verwandtschaft stammt bodenständig aus der – heute wieder entdeckt – "wunderschönen" aber eigentlich immer armen Rhön; ihre Ahnenreihe ist väterlicher und mütterlicherseits recht zahlreich und lässt sich – dank der Gersfelder Großeltern und Hitlers angeordnetem Ariernachweis akribisch wohl geordnetem Notfallköfferchen – verhältnismäßig einfach zurückverfolgen. Ungeklärt ist noch, ob die Mauls vertriebene Exulanten, Verbannte, besonders die aus den habsburgischen Erblanden, Schlesien im 16./17.Jahrhundert und im 18.Jahrhundert aus dem Erzstift Salzburg vertriebenen Protestanten waren.
Nun möchte ich es aber genauer wissen, und suche nach Spuren unser beider Vorfahren. Viel werde ich wohl nicht finden, vielleicht bei den Mauls mehr. Mal sehen. Trotzdem fange ich bei der "Gutowski-Familie" an.
Als Kind fragte ich – wohl im April 1939 bei der Beerdigung meiner Oma Bertha Lempka, der Mutter Eurer "Nürnberger Oma", der einzigen Oma, die ich als Kind noch gesehen habe – nach den übrigen Großeltern. Vom Opa Lempka erhielt ich ausweichende Antwort: – "schon lange tot" – ……… ansonsten viel- oder nichtssagendes Schweigen ………
Ähnlich ging es mir bei Fragen nach der "Oma Gutowski", sie sei "schon früh verstorben". Das einzige, was ich in einer Dokumentenmappe habe, ist eine Geburtsurkunde des Vaters, aber erst 1925 ausgestellt anlässlich der Heirat mit meiner „Mutti“, Emma. Da steht etwas von der "unverehelichten Wirthstochter Charlotte Gutowski". Von seinem Vater war wohl nie die Rede. In diesen Tagen erst erfahre ich nach einigen vergeblichen Briefen und abgelehnten Besuchsangeboten – "kein Interesse" – von der einzig verbliebenen Stief-Cousine väterlicherseits, Christel Ruhmann, dass die "Lotte", die Charlotte der Geburtsurkunde, also die Oma väterlicherseits, am 11. Juni 1925, wenige Monate vor der Hochzeit meiner Eltern Gutowski – wahrscheinlich in Wattenscheid – verstorben sei.
Ich hätte früher konkret fragen, Tagebuch führen und scheinbar mich gar nicht betreffende Briefe aufheben müssen. Vieles ein Kind tief Beeindruckendes bekommt aus vager Erinnerung heute im Nachhinein eine andere, neue Bedeutung.
Lasst mich deshalb bitte einen großen Sprung machen in die "innere Geschichte" meines Vaters, die für mich erst Mitte Mai des Jahres 1945 in damals nicht oder kindlich andersartig begriffenen Bruchstücken langsam sichtbar wurde und im Gedächtnis haften blieb.
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Fritz Gutowski in Blindenschrift
"Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege, des der den Himmel lenkt", spielt Vati auf dem frisch gestimmten Klavier auf dem Bauernhof in Obervorschütz[1], nach der allerersten Stimmung nach Kriegsende 1945.
Als stände die Zeit still, verhalten die Familie des Bauern[2] und die beiden DP's, die "befreiten" polnischen Zwangsarbeiter, wie von unsichtbarer, heiliger Hand berührt. Keiner sagt ein Wort; der große Jagdhund, der in die Stube gekommen ist, legt sich Vati zu Füßen, schaut zu ihm hoch und wedelt mit dem Schwanz; keiner weiß auch nur einen Gedanken zu formulieren. Die Bäuerin nur legt fast heimlich zu dem als Honorar fürs Klavierstimmen gedachten halben Brot noch ein Stück Hessische "aale Worscht".
Solches wird sich noch oft wiederholen, mit und ohne "aale Worscht" als hilflose Antwort auf ein soeben erfahrenes Geheimnis. Ein Engel, eine andere "Wirklichkeit", muss neben und um ihn sein – heute bin ich sicher, auch um uns; wir spüren es nur nicht; würden wir ihn – „es“ - sehen, wäre er, „es“, hier für uns verloren. Vom Dasein des Engels spüren nur Andere etwas, wir selbst nicht; Vati, der Blinde, hat „ihn“ auch noch nicht „gesehen“. Jener Engel lässt ihn – und uns - wohl nur leben, um Anderen spürbar zu werden. Vati hat aber einen ganz besonderen Engel. Bei Vatis Kundschaft geschieht "es" meist beim Spielen eines Chorals am Ende der Klavierstimmung. Dann kommt das Gespräch auf. Während des Dritten Reiches ist es vor allem ein Signal, dass man offen miteinander reden kann, was andernfalls böse Folgen haben könnte. "…… seit mehr als 30 Jahren hat der Heimgegangene nicht nur unser Instrument gestimmt – bei jedem Besuch wurden auch unsere Herzen wieder froh und dankbar, über den Segen, der von diesem innerlich so reichen Mann ausströmte. ……" heißt es in einem Kondolenzbrief 1963.
Doch jetzt erst noch einmal einen halben Tag zurück. Es ist der erste heiße Tag Mitte Mai 1945, die Kapitulation des "Dritten Reiches" ist erst wenige Tage alt.
Ich führe Vati auf der damals noch unbefestigten Straße, fast ein Feldweg, von Gudensberg kommend die 3 Kilometer zu seinem ersten "Auftrag" nach der Ausbombung am 28. Februar 1945 in einer noch gar nicht absehbaren neuen Zeit. Hinter uns, auf der von Marburg über Fritzlar nach Kassel führenden Straße lärmt
ständig das Geräusch der immer noch ostwärts fahrenden Kolonnen amerikanischer Militärlastwagen. In der Luft singen unbeirrt Lerchen; es klingt, wie Vati sagt, als ob Spirgel[3] gebraten wird.
Die sehr schwere Tasche mit den geretteten Klavierstimmerwerkzeugen kann er wegen einer unheimlich schmerzenden Nervenentzündung in den Armen kaum tragen, und ich, der noch nicht 11-Jähriger mache hilflose Versuche, die das Tragen nur noch erschweren. Er muss die Tasche absetzen. Er wendet sich ab. Ich soll seine tiefe Erschütterung nicht bemerken; es sind ganz andere "Tränen", als ich als Kind vorher gesehen hatte.
"………… wird es je wieder gut werden?"
Einundfünfzigeinhalb Jahre eines Blindgeborenen stehen hinter der Frage: Vordergründig die Ausbombung beim vorletzten Luftangriff auf Kassel am 28. Februar 1945 mit dem totalen Verlust alles bisher Erworbenen, Unterbringung in Gudensberg beim blinden "Schicksalskameraden", Esperantofan[4] und „Bruder“ Georg Schröder, seiner immer keifenden Frau Mathilde und den – für mich damals – "kleinen" Kindern, vor allem dem unberechenbaren Karli[5]. Das alles in einem kleinen baufälligen Haus, am – heute denkmalgeschützten – Marktplatz direkt unterhalb des Burgbergs, einem ständig nach Stock und entfernt auch nach der – angeblich jedenfalls – leeren Räucherkammer irgendwo nebenan riechenden Zimmerchen, in das nur zwei Betten, die Tür und ein kleines Fensterchen zum Höfchen passen.
Für mich war das kleine dunkle Höfchen direkt am steil aufwärts strebenden Burgberg mit dem Plumpsklo, den Würmern, dem „dabei“ zu lesenden Zeitungspapier und den Wasserbecken zum Einweichen der Weiden für den Korbmacher Schröder nicht so bedrohlich, wie der Luftschutzkeller in den zwei bis drei Jahren vorher in Kassel. Zudem konnte man mit den Kindern der Nachbarschaft vom Burgberg herab so schön um die Wette Weitpinkeln spielen - bis zu den Häusern. Bis die Amis kamen, war das übernächste Haus allerdings dafür tabu. Da wohnte der Ortsgruppenleiter. Nach dem Einmarsch war der Gefürchtete samt Familie natürlich getürmt. Aus Rache
jetzt bis in seinen Hof weit zu pinkeln, auf den Gedanken kamen wir Kinder damals nicht. Wohl war auch das Unnahbare dieses Hauses nicht gewichen – und – weiß man, was geschieht, wenn "der" wieder das Sagen hat.
Vatis sah ich zum ersten Mal bei Schröder mithelfen, Körbe zu flechten. Das hatte er in Königsberg in der Blindenanstalt neben Bürstenbinden und Stuhlflechten auch gelernt, um dort "sein Brot zu verdienen" - oder das des Herrn Direktors, wie ich später berichten werde. Wenn wir den Kindern schon das Brot wegessen, ließ uns die Mathilde unverhohlen spüren, dann muss der Vati dafür auch arbeiten. Für mich bedeutete der Geruch nach Weiden in der Werkstatt nichts Erniedrigendes, aber für Vati ist es ein Fallen ohne Halt in eine Zeit, die er schon lange überwunden geglaubt hat. Ich „musste“ – dabei tat ich es gern – einen Festmeter Buchenholz hacken. Bloß waren die meisten Klötze total astig und für mich kaum, mühsam und langwierig zu zerkleinern.
Das Ende des 1000-jährigen Reiches hatte Vati ja schon erhofft. "Betet darum, dass der Krieg bald zu Ende geht", war einer seiner gefährlichen Sätze im Luftschutzkeller schon bald nach Stalingrad. Das frühe Durchschauen der menschenverachtenden Ideologie und das halbe – teilweise von eingeweihter Kundschaft unter vorgehaltener Hand erfahrene - und das noch geheime und unvollständige Wissen über die Verbrechen des "Deutschen Volkes" hatte dazu beigetragen. Dann kam am 28. Februar 1945 die Zerstörung des seit 1928 nahezu Selbstverständlichen, der Wohnung in Kassel, Berlepschstr. 4, III. Stock, durch eine Brandbombe direkt in unsere Wohnung beim vorletzten Angriff der Amis auf Kassel mit dem "und wohin jetzt" und vor allem "mit dem Kind"?
Hier in Gudensberg ist buchstäblich ALLES zusammengebrochen. Das bohrt und schmerzt noch tiefer als die Nervenentzündung in den Armen, die ja „nur“ körperlicher Reflex auf diesen Zusammenbruch ist.
Nun steht er 1945 wieder da, wo "es" angefangen hat.
Ich werde es nur so nach und nach aus Bruchstücken, Nebensätzen und Stoßseufzern erfahren. Erst heute fange ich an, es zusammen zu sehen und zu einem Bild vom Vater zusammen zu fügen:
Das Schweigen um seinen Vater, er, das uneheliche Kind, dann auch noch blind geboren, die Schande der Familie – der muss weg! – das wird er im späteren Leben noch zwei mal hören und kann nichts dagegen tun – die hilflose Angst vor dem "Herrn" des kleinen Dorfes Sdorren, die kurze Geborgenheit bei einem Lehrer, vielleicht Verwandten seiner Großmutter, einer geborenen Ruchay, im Nachbardorf Adlig-Kessel, das Abgeschobenwerden in die zu der Zeit korrupte im Jahr 1900 noch "alte" Blindenanstalt in Königsberg, die endlose Kette von Lieblosigkeiten und Demütigungen, aus seinem dreißigsten Lebensjahr eine bohrende und unbewältigte Schuld, bald darauf eine Ehe, die von ihm Dankbarkeit "für das Opfer" einfordert. Es wird noch sehr lange dauern, bis ich das sehe.
Da steht er nun auf dem Weg nach Obervorschütz als er das Kind fragt, fast aber mehr sich selbst:
"………… wird es je wieder gut werden?"
Dass wo immer er ist, bei seiner Kundschaft und vielerorts von ihm eine Wärme und Licht ausgeht, in seiner Gegenwart schwierige Sachverhalte klar, einfach werden, das gehört nicht zu seinem Selbstwertgefühl. Er erleidet nur, dass dieses Strahlen in seiner Ehe misstrauisch, eifersüchtig geneidet wird.
"………… wird es je gut wieder werden?"
"Ja", sagt kindlich naiv an diesem wunderschönen Tag im Mai 1945 der noch nicht Elfjährige.
"Moi boze – mein Gott" seufzt der Vater – ich soll es noch oftmals hören, – und "psiakrew – verdammt", nimmt die schwere Tasche wieder auf, "gehen wir weiter nach Obervorschütz!"
"Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege, des der den Himmel lenkt." spielt Vati dann zwei Stunden später auf dem frisch gestimmten Klavier auf dem Bauernhof in Obervorschütz.
Das halbe Bauernbrot und das Stück "aale Worscht" ist der allererste Anfang in eine weiter ungewisse Zukunft. "Befiehl du deine Wege …………………
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"Liebe Schicksalkameraden", beginnt der 1. Vorsitzende des Blindenvereins, Christian Saure, jeweils seine Begrüßung bei der Blindenversammlung. Vati, der 2. Vorsitzende, – Mutti führt die Kasse, als alte "Bank-beamte" ist sie dafür prädestiniert – mag das Wort Schicksal nicht hören. Schicksal ist anonym, macht keinen Sinn, ist kalt und unbarmherzig, sei von außen "prädestiniert". Es gäbe "Praedestination", Vorher-bestimmung, ist Mutti in Berlin in ihrer "Gemeinde" gelehrt worden. Vati wehrt sich instinktiv dagegen.
Für Vati vollzieht sich e i n e r s e i t s alles in unserer sichtbaren Welt nach erkennbaren festen Natur-gesetzen von Ursache und Wirkung – "wie man in den Wald hineinruft, so schallt es auch heraus" – aber die Welt unseres "Lebens" darin ist eine auf Personen bezogene, partnerschaftliche, die wir ständig beeinflussen und dann auch zu v e r a n t w o r t e n haben. Den ganzen alten "Parteigenossen", die nach dem Zusammenbruch Vati um einen "Persilschein" baten, hat er es so gesagt. Bloß hat das nichts gebracht. Die waren ganz schnell wieder die neuen Herren – auch der Ortsgruppenleiter von Gudensberg[6].
Für ihn bestimmt deshalb a n d e r s e i t s ein noch viel weiter gehendes göttliches Naturgesetz unser Leben:
"Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten."
(Nachsatz des 2. Gebotes, 2. Mose 20)
Dieses "Heimsuchen" akzeptiert der Fritz Gutowski, weiß er doch zu genau von den habsüchtigen "Missetaten" der Väter des preußischen Erbrechts, der rücksichtlosen und triebhaften Inbesitznahme nach Lust und Laune des leiblichen Vaters – und – den „Stunden-Frommen“ dort. Vor allem kann er auch eine eigene große Schuld nicht verdrängen, die er einmal auf sich geladen hat und die nur äußerlich so anders ist, als die des leiblichen Vaters.
So wartet er gleichzeitig suchend und geduldig auch auf die Erweisung der "Barmherzigkeit an den vielen Tausenden" an ihm, den blinden Fritz, – und – seine Nachkommen.
Auf dem Weg nach Obervorschütz "sieht" er, der Blinde, im "Ja" des Kindes einen weiteren Beweis dieser Barmherzigkeit.
Lange, sehr lange, fast zu lange hat er auf diese Gnade Gottes warten müssen. Das erste Kind in seiner Ehe, Elisabeth hätte sie heißen sollen, wird aus Übervorsicht der Ärzte übertragen und verwest noch im Leib der Mutter; bei der viel zu späten Notoperation am 29. Mai 1927 geht es um Leben und Tod. Seine Frau, hier noch die "Kasseler Oma", liegt über fünf Wochen im Krankenhaus. Das zweite Kind, Hans-Joachim, verblutet am 13. Februar 1932 nach einer schwierigen Zangengeburt aus dem durch dem rachitischen, viel zu engen Becken der Emma.
"……… der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied ……", stimmt; aber wie ist es mit denen "…… die mich lieben und meine Gebote halten"?
Das ist nun schon das dritte tote Kind im Leben des Fritz Gutowski. Vom ersten und der damit verbundenen ihn bedrückenden Schuld wird später noch zu berichten sein – und – von der einem Außenstehenden kaum rational, moralisch, religiös oder „fromm“ vermittelbaren Erfahrung der Barmherzigkeit einer wunderbaren Vergebung nach vielen, vielen Jahren. Diese letzte oben angedeutete wundersame "Vergebung" erfährt er erst gut 25 Jahre später, und die löst gleichzeitig den nächsten Konflikt aus; das dann aber wirklich später.
[1] Obervorschütz Gudensberg, Schwalm-Eder-Kreis, Hessen, Deutschland
[2] lt. Elisabeth Lengemann, geb. Schröder die Familie Rudi Sauer, genannt ‚Hauptmanns!
[3] Ostpreußisch "Spirgel" ist Schweineflom, aus dem Schmalz ausgelassen wird.
[4] s. "Die Blindenwelt" 1925 S. 44/45 Weltverein blinder Handwerker und Handwerkerinnen – hierin Esperanto als Hilfssprache zu verbilligtem internationalem Materialeinkauf von Georg Schröder, Maden Post Gudensberg, Bezirk Cassel
[5] als der sein "Töpfchen" in die frisch geschälten Kartoffeln leert, schüttet die Mathilde nur das Wasser ab und füllt neues Wasser drauf – na dann guten Appetit
[6] War es vielleicht doch gut, dass wir Kinder damals nicht in seinen Hof weit gepinkelt haben?
Dieses damals erfahrene instinktive Zögern, diese Ohnmacht – war es Feigheit? – wurmte mich.
Das soll mir nicht noch einmal geschehen. Ich will den Mund aufmachen, allen selbsternannten Göttern ans Bein pinkeln – oder wenigstens heimlich nachts vor die Haustür.
Vati kannte solche Haltung nicht.
Als 1934 der Hans-Friedrich – der Gynäkologe, Vaters Klavierstimm-Kunde, besteht aber auf Frieder – nach einem ebenso schweren Kaiserschnitt geboren wird, heißt die konkretisierte zweite Frage des Vaters nach der Barmherzigkeit: "sieht er?" Gut, er sieht, bis heute. Genügt ihm das?
Erst als er Christiane 1962 in Nürnberg-Eibach in den Armen gehalten hat
ein Jahr später sich noch einmal vergewissert hat "sie sieht!" |
kann er 17 Tage später am 4. Oktober 1963 in Frieden – und mitten aus seiner Arbeits als Klavierstimmer auf dem Weg zu einer Cembalostimmung bei den Kasseler Musiktagen - sterben.
Die Lempkas, die Familie der Emma Gutowski, der "Nürnberger Oma", wie Ihr sagt, wohnten in Berlin. Hier füge ich ein erstes Bild vom 70. Geburtstag der Oma Bertha Lempka am 13. Januar 1931 ein.
1931: Bruno Lehmann steht, Karl Lempka, Fritz u. Emma Gutowski, Oma Berta Lempka, Helene Lehmann, Richard u. Ella Lempka
Von Vati/Opa Fritz Gutowski, den nur Christiane als Baby "erlebt" hat, war bis vor kurzem nur der Name der Mutter Charlotte Gutowski bekannt; sein Vater war oder ist zunächst namenlos. Dass beide aus Masuren, genauer aus Sdorren im Kreis Johannisburg, stammen, ist mit einiger Sicherheit zu sagen. Aber dann hört es schon auf. Nur ab und zu und auch nur ganz nebenher und vorsichtig habt Ihr gefragt nach Eurem "Woher". Ich hätte kaum Antwort geben können. Zuviel liegt im Ungewissen; Einiges ist noch völlig ungeordnet im Dokumenten-Ordner, von anderem weiß ich gar nicht, wo ich zu suchen anfangen soll. So fange ich einfach mal an. Vielleicht ergibt sich einiges im Schreiben das Ordnen und Finden. Derweil muss ich viele Ämter und Archive und Nachkommen von Zeitzeugen anschreiben und geduldig auf Ergebnisse warten. |